Schnee

Von Anne-Hélène Fritz.

Mit fahrigen Bewegungen, die mitunter so hektisch waren, dass ihm beinahe alles aus den Händen gehüpft wäre, teilte er das Pulver mit der Rasierklinge, formte zwei einigermaßen als Linien erkennbare Häufchen und bemühte sich, seine eingefallenen Augen zu ignorieren, die ihm zwischen den Straßen auf dem Spiegel entgegenstarrten. Er setzte das Röhrchen zuerst ans linke Nasenloch, zog die Linie ein, wobei kaum etwas übrig blieb, dann wiederholte er die Prozedur auf der anderen Seite.
Das Zeug stieg ihm rasend schnell zu Kopf und schien im Gehirn zu explodieren. Ein undurchdringlicher Schleier senkte sich auf seine Nerven, erstickte alle Gedanken, und die Musik, die durch den verrauchten Raum hallte, klang nun irgendwie verzerrt, wie aus einem Grammophon. Die anderen Menschen waren auf einmal groteske Gestalten, und er war versucht zu lachen, als ihn schon wieder ein anderes Gefühl überraschte und seine Aufmerksamkeit in Bann schlug: Bilder, die wie Schneeflocken vor seinen Augen vorbeisegelten. Er konnte nicht sagen, woher sie kamen noch wohin sie gingen, aber sie luden ihn ein, sich in ihre Welt vorzuwagen, ja, sie winkten ihm zu, dessen war er sich völlig sicher.
Er ließ sich mitreißen und war im Handumdrehen nicht mehr in dieser stickigen Vorstadtkneipe. Stattdessen atmete er tief eine klare und kalte Luft ein. Er spürte, wie ihm Schneebälle um die Ohren flogen, doch die tobenden Kinder, die diese Schneeballschlacht veranstalteten, konnte er nicht ausfindig machen. Er sah einen mutlosen Nachrichtensprecher den Schneebericht mit Schneehöhen und Lawinengefahr herunterbeten, eine Ansagerin mit leicht feierlicher Stimme einen Schneesturm ankündigen und zwei Schneemänner mit Schneewittchen Schneeglöckchen pflücken. Er hörte eine Schneeeule ihren unheilvollen Ruf ins Schneegestöber hinausheulen, der von Schneezäunen zurückgeworfen wurde, sah, wie sie auf der teilweise gefrorenen Schneedecke ausrutschte und einen Schneehasen einholte, der erschrocken davon hoppelte und in einer Schneewehe verschwand. Ohne auf die eisigen Schneeblumen zu achten, schlitterte er in die nächste Szene, Schneeschläger wirbelten durch seine Gedanken, er saß auf einem ratternden Schneepflug, fräste sich über schneebedeckte Pisten, zermalmte ein paar Schneeläufer samt ihren Schneeschuhen und Schneetellern. Er fühlte sich wie der Schneekönig persönlich, der an der Schneegrenze entlang ritt, auf seiner Schneekanone ohne Schneereifen oder Schneeketten, und er zischte auf seine Schneehütte zu, wobei er den aufspritzenden Schneematsch großzügig übersah, wie er auch die Schneehühner, die in Schwärmen hinter ihm dahergeschneit kamen, keines Blickes würdigte.
Der Sturz vom Schneethron --- ein aufflammender Schmerz im Kopf ließ ihn für einen kurzen Augenblick in die Wirklichkeit zurückfinden. Er war vom Hocker gestürzt. Die Putzfrau hatte ihn am Morgen nach der Riesenfete zur Türe hinausfegen wollen, hatte gestutzt, als sie seinen schneeweißen Teint bemerkte, hatte kompetente Leute in schneeweißen Kitteln zu Hilfe gerufen, die dann feststellten, dass der Schneekönig ins ewige Reich der schneebedeckten Jagdgründe abgewandert war.