Von Alexandra Kölle.
Die Nacht war klar. Jetzt wo nur noch
vereinzelt Raketen und Kracher aufstiegen und den Himmel
erhellten, hatten die Sterne weniger Konkurrenz. Zwanzig
nach zwölf. Anja klapperte in der Küche mit dem Geschirr.
Sie war gleich nach zwölf ins Haus zurückgekehrt. Er leerte
sein Sektglas. Sein Atem bildete kleine Rauchwölkchen. Die
kalte Nachtluft, in der noch ein leichter Rauchgeruch hing,
durchströmte fast schmerzhaft die Lunge.
War's das schon? Davon hatte er doch immer geträumt, das
war doch immer sein großes Ziel gewesen. Das erste
Weihnachtsfest und der erste Jahreswechsel im eigenen Heim.
Mit 34 stellvertretender Produktionsleiter in der Firma.
Autoteile, ein sicherer Job. Nach dem Ausscheiden des Chefs
käme er an die Reihe, spätestens im übernächsten Jahr. Mit
Anja seit sieben Jahren glücklich verheiratet, die Kinder
vier und sechs, das dritte war unterwegs. Das Haus war
rechtzeitig vor Wintereinbruch bezugsfertig geworden. Der
Umzug war dank Anjas Organisationstalent bis auf winzige
Pannen fast perfekt abgelaufen.
Wieso, um Himmels willen, war er denn nicht glücklich?
Warum plagten ihn ständig diese Ängste, alles falsch
gemacht zu haben, das wahre Leben zu versäumen?
Vom Balkon aus konnte er fast das ganze Neubaugebiet
überblicken, das mittlerweile wieder im Dunkel versank, bis
auf das Licht der wenigen Straßenlaternen, die aber auch
nur einzelne helle Streifen auf die Dächer warfen. Waren
alle Menschen da draußen glücklicher und zufriedener als
er?
Anja liebte die Kleinen abgöttisch. Überall im Haus hingen
selbstgemalte Bilder von Kevin und Laura, die sie stolz den
Besuchern präsentierte. Er selbst hatte allerdings
ernsthafte Bedenken, was Kevins feinmotorische Fähigkeiten
anbelangte. Kevin war letzten Monat sechs geworden, würde
also diesen Sommer eingeschult werden. Wie sollte das Kind
schreiben lernen, wo es doch nicht mal in der Lage war, ein
halbwegs vernünftiges Haus zu malen, das man auch als
solches identifizieren konnte? Und Laura war viereinhalb
und hatte immer noch Schwierigkeiten, die Lautkombination
"kl" auszusprechen. Sie blieb bei "tlein", wie oft er sie
auch korrigierte. Anja schien das alles nicht zu stören.
Anja - ja, sie schien sich selbst immer mehr in ein Kind zu
verwandeln. Seit Jahren trug sie diese unförmigen
Teddybärpullis in allen Variationen: Braune Teddies am
Strand, hellblaue Teddies beim Schlafengehen, weiße Teddies
beim Schneemannbauen. Er wusste nicht, was er mehr hasste,
die Bärchenpullis oder ihre pastellfarbenen Leggings, die
ihn immer an Strampelhosen erinnerten. Mit kinderlosen
Frauen oder gar Singles konnte Anja überhaupt nichts mehr
anfangen, während er danach lechzte, Thomas über sein
Junggesellenleben auszufragen. Der war wahrscheinlich
wieder im Ausland und genoss das Vagabundendasein, ohne
einen Gedanken an Sparverträge oder an die Zukunft zu
verschwenden. Eine feucht-fröhliche Party im Süden, bis
einem der Alkohol das Licht ausblies...
Nein, dafür war er doch zu bodenständig. "Buchhaltertyp",
so hatte ihn Thomas scherzhaft charakterisiert - Gott, wie
lange war das her? Nein, für ihn war es immer klar gewesen,
dass er heiraten und eine Familie gründen würde. Das eigene
Fleisch und Blut das erste Mal auf den Arm nehmen, das
kleine Gesichtchen betrachten. "Dieses Kind ist die Krönung
unserer Liebe", hatte Anja wörtlich gesagt, als sich das
erste Wunschkind anmeldete. Als Anja immer runder wurde und
die Geburt immer näher rückte, waren ihm plötzlich Zweifel
gekommen. Kurz vor dem errechneten Termin plagten ihn
Alpträume, er schlief keine Nacht mehr durch. Er hatte
Angst, als Erzieher jämmerlich zu versagen. Als er mit
seinem Vater sprach, lachte der nur und sagte, alles würde
sich irgendwie einrenken. Als Kevin dann da war und er das
kleine wimmernde Bündel Mensch im Krankenhaus zum ersten
Mal in die Arme nahm, fühlte er eigentlich überhaupt
nichts. Seine Eltern und die Schwiegereltern waren völlig
aus dem Häuschen, auch Anja strahlte und kicherte, trotz
der anstrengenden Geburt, und konnte dem Baby gar nicht
genug alberne Kosenamen geben. Er war über sich selbst
erschrocken, über seine Gefühllosigkeit dem Baby gegenüber.
Er spürte nur Angst und die dumpfe Last der Verantwortung.
Ähnlich war es ihm bei Laura ergangen, und auch der Gedanke
an das neue Baby erfüllte ihn nicht gerade mit Zuversicht.
Das Netz zog sich immer fester zu, und an einen Ausbruch
aus dem Alltag war nicht mehr zu denken. Wie war er da nur
hineingeraten? Was um Himmels willen war mit ihm nicht in
Ordnung?
Er hörte, wie sich die Balkontür hinter ihm öffnete. Anja
kam dicht an ihn heran. "Schöne Nacht, nicht wahr?"
"Mhmm. - Schlafen die Kinder?"
"Ja. - Wie die Murmeltiere."
Sie legte von hinten die Arme um ihn und drückte ihn kurz
an sich.
"Du bist ja ganz kalt, Schatz, willst du nicht endlich
hereinkommen? Das Feuerwerk ist doch längst vorbei. Du
wirst dich noch erkälten, so ganz ohne Jacke."
Er sah sie an. Ihre blauen Augen blickten mütterlich, und
ihr aufmunterndes Lächeln erinnerte ihn auf verrückte Art
und Weise an das seiner Mutter.
"Es läuft ein guter Krimi im Fernsehen. Wir trinken noch
ein Gläschen Sekt. Na, was ist los?"
Das weiße Bärchen auf dem Pulli blickte ihn herausfordernd
an, während es an seinem Iglu baute. Drei kleine weiße
Bärenkinder sahen ihm dabei zu.
Ihm war klar, es würde keinen Ausbruch geben. Nicht heute
und auch nicht irgendwann. Sein Platz war hier, damit würde
er sich abfinden müssen. Basta.
"Hört sich gut an."
Er versuchte, seiner Stimme einen unbeschwerten Klang zu
geben.
"Ich bin wirklich richtig durchgefroren. Gut, gehn wir
rein."