Gretchen und die
Übersetzungswissenschaft. Ein aktuelles
FAUST-Fragment.
Von Rainer Kohlmayer.
GRETCHEN. Versprich mir, Heinrich!
FAUST. Was ich kann.
GRETCHEN. Nun sag: wie hast dus mit der Intuition?
Du bist Dozent,
ein kluger Mann -
Allein ich glaub,
du hältst nicht viel davon.
FAUST (sich ängstlich umblickend ). Heut nicht, mein Kind.
Du weißt, ich bin
dir gut;
Für meine Lieben
ließ ich Leib und Blut.
Will doch niemand
sein Sprachgefühl vermiesen.
GRETCHEN. Nein, drück dich nicht.
Ich will es
wissen.
Das Sprachgefühl
- es existiert doch, gelt?
FAUST (nachdem er Fenster und Tür seines Arbeitszimmers
geschlossen hat). Mein liebes Gretchen, die gelehrte Welt
Mag den Begriff
nicht allzu gern.
"Intuition" und
"Sprachgefühl" sind allzu fern
Terminologischer
Abstraktheit
Und voll von
nicht didaktisierbarer Kompaktheit.
GRETCHEN. Du glaubst doch auch daran?
FAUST (leise). Mein Liebchen, wer wagt heut zu sagen:
Ich glaub ans
Sprachgefühl!
Magst Forscher
aller Art befragen,
Und ihre Antwort
scheint nur Spott.
Der eine raunt
und murmelt wie vom lieben Gott,1
Der andre spricht
von Sprache wie von einer Waschmaschine.2
GRETCHEN. So glaubst du nicht?
FAUST. Verdunkle nicht die heitre Unschuldsmiene.
(Zieht
Gretchen auf seine Knie und flüstert ihr ins Ohr.)
Ich glaub daran.
Doch bitte: sag's
nicht weiter!
Wahrscheinlich
glaubt es jedermann,
Doch jeder hält
diejenigen Kollegen für gescheiter,
Die, theoriegeölt
und strukturellen Zungenschlags,
Das Sprachgefühl
als mittelalterlich verketzern.
GRETCHEN. So einen hört ich anderntags
Auf einer Tagung
vor uns Übersetzern
Von Algorithmen
und von Textmodellen schwärmen.
FAUST. Du brauchst dich drum nicht abzuhärmen.
Von Kindesbeinen
an lernt jeder
Die
Muttersprache, wie sie zu ihm kommt.
Der lernt ein
Wort für jede Vogelfeder,
Der andre nur,
was grad zum Überleben frommt.
Der Mensch
spricht und versteht
So viel, wie er
erlebt, erfährt.
Der eine kennt
die sinnliche Realität,
Während der andre
sich von Medienkost ernährt.
Der liebt das
pralle Wort, der andre das Kalkül...
Nenn's Intuition,
nenn's Kompetenz,
Nenn's
Sprachgefühl -
Name ist Schall
und Rauch.
GRETCHEN. So ungefähr sagt das mein Lehrbuch auch,
Nur sehr viel
dunkler und abstrakter.
Die Sprach- und
Übersetzungswissenschaft ist voll vertrackter
Begriffe, die mit
Stacheldraht
Das Land der
Sprache mir versperren.
Das ist ein
Kauderwelsch und Wortsalat,
Die Hirn und
Zunge mir verzerren.3
FAUST. Mein armes Kind!
GRETCHEN. Und wenn wir übersetzen,
muß man an
Linguistik erst den Schnabel wetzen,
Bevor man sagen
darf, was man längst weiß.
FAUST. Das ist nun mal des Fortschritts Preis!
Man hat die
Übersetzungswissenschaft
Ja nicht umsonst
erfunden.
GRETCHEN. Das Schlimmste ist: der Muttersprache Kraft
Wird kaum
gefördert, eher totgeschunden
Durch all das
theoretische Palaver.
FAUST (mit tiefem Seufzer). Das weiß ich nur zu gut.
Als akademischer
Kadaver
erzeugt man
wissenschaftlich klingenden Jargon,
Den wohlbekannten
deutschen Sprachbeton.4
GRETCHEN. Du meinst also, die Theorie sei zu nichts gut.
FAUST Das mein ich nicht! Nur ruhig Blut!
Doch wichtiger
als alle Theorie
ist die
Erfahrung, also "Empirie".
Dem Volk aufs
Maul geschaut!
Der Übersetzer
muß erst Menschenkenner werden,
Muß sich
versetzen lernen in die fremde Haut,
Um dann mit
muttersprachlichen Gebärden
Das Fremde
mimisch auszudrücken.
GRETCHEN. Ich fürchte, mir wird das nie glücken.
FAUST. Es glückt nur selten - oder nie.
Denn alles fließt
- die Theorie,
Die Sprache und
der Geist der Zeit.
Das Übersetzen
ist die reinste Sisyphusarbeit...
GRETCHEN. Ach Gott, hätt ich mein Examen bloß!
FAUST. Solange du studierst, bist du nicht
arbeitslos.5
1) "Intuition wird hier als die Lebendigkeit eines
Ahnungsvermögens bestimmt, als..." usw.
2) "Die anthropozentrische Auffassung von der Sprache hat
... an Boden verloren"; man versteht "natürliche Sprache"
jetzt "als einen funktional bestimmten, mehrere Subsysteme
umfassenden (polysystemischen) Zusammenhang...". (Es ist zu
vermuten, daß auch diese Sätze nicht "anthropozentrisch"
erzeugt wurden, sondern - ohne menschliche Beteiligung -
der Kreuzung eines Fließbands mit einem Lehrstuhl
entsprungen sind. H.K.)
3) "Die Translation stellt ein linguistisch und kognitiv
außerordentlich komplexes, multifaktorielles sprachliches
Bedingungsgefüge dar". Sie "erfordert gleichsam eine
interlinguale Superkompetenz. Diese basiert auf einer
umfassenden, die textpragmatische Dimension einschließenden
Kenntnis der jeweiligen Ausgangs- und Zielsprache und
besteht in der Fähigkeit, die beiden einzelsprachlichen
Kompetenzen, die man wieder in rezeptive und reproduktive
Teilkompetenzen subklassifizieren kann, nicht summativ,
sondern übersummativ, d.h. textuell zu synchronisieren."
(Lieber Leser! Seien Sie ehrlich: Sie haben nicht bemerkt,
daß es sich hier um eine Parodie handelte! H.K.)
4) Das Buch "versucht..., zwischen referierender
Bestandsaufnahme und argumentativer Entfaltung eigener
Forschungsansätze das Gleichgewicht zu halten und ist um
Verständlichkeit der diskutierten Zusammenhänge durch
Aufgreifen derselben Probleme unter verschiedenen
Gesichtspunkten bemüht. Auf Formalisierungen ... wird
weitgehend verzichtet, weil auch nichtformalisierte
Zusammenhänge wissenschaftlichen Aufschlußwert besitzen und
ein komplizierter formaler Beschreibungsapparat mit seinem
abstrakten Exaktheitsanspruch den Nachvollzug der
inhaltlichen Argumentation unter Umständen eher behindert
als fördert..." (Falsch geraten, liebe Leserin - das ist
keine Parodie, sondern wissenschaftliche Vorwort-Prosa!)
5) Das Buch, aus dem die Zitate 2-4 (einschließlich
Selbstparodien) stammen, wird demnächst zum besseren
Verständnis der deutschen Leser ins Englische übersetzt.
Anschließend wird es zum besseren Verständnis der
englischen Leser hoffentlich ins Chinesische übersetzt.